"reden! statt schweigen" über Scham und Schuld

Presseinformation

 

Hamburg, 14. November 2023 – „reden! statt schweigen“ ist eine seit 2010 bestehende Veranstaltungsreihe der „Stiftung Freundeskreis – Stark für psychische Gesundheit“ für mehr Informationen und Austausch zu psychischen Erkrankungen, immer aus dem Blickwinkel mehrerer Perspektiven. Am Montag den 13. November hat die Veranstaltung zum Thema Scham und Schuld: Zwischen vertrauten Gefühlen und großem Leid in der Kulturfabrik Kampnagel im Beisein von etwa 300 Gästen stattgefunden. Im Rahmen eines Vortrags, einer Podiumsrunde und einer Lesung wurde das Thema beleuchtet. Mit dabei waren Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grußwort & Podium), die Psychoanalytikerin Ann Kathrin Scheerer (Vortrag & Podium), Pröpstin Isa Lübbers (Podium) sowie Dagmar Berghoff (Lesung – Textbeitrag eines Betroffenen). Durch das Programm führte der Journalist und Soziologe Burkhard Plemper.

Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin der Freien und Hansestadt Hamburg, Senatorin für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirkeund auch Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung Freundeskreishat ein Grußwort gehalten und an der Podiumsrunde teilgenommen. Mit Hinblick auf das Veranstaltungsthema verwies sie unter anderem auf die Wichtigkeit der Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen:
„Wir alle kennen Menschen, die schon mal in einer psychischen Notlage gewesen sind – oder waren es selbst schon einmal. Obwohl das Thema im Privaten so präsent ist, ist es immer noch ein großes gesellschaftliches Tabu. Schuld und Scham können Menschen mit psychischen Erkrankungen davon abhalten, sich professionelle Hilfe zu suchen. Daher ist es umso wichtiger, eine Atmosphäre zu schaffen und Menschen zu ermutigen, offen über ihre psychische Gesundheit zu sprechen, damit sie die Hilfe erhalten, die sie so dringend benötigen.“

Zur Bedeutung von Scham- und Schuldgefühlen Dr. Stephanie Wuensch, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Freundeskreis in der Themeneinführung: „In Zeiten zunehmender, aggressiver und regressiver Verweigerung der Auseinandersetzung mit und Akzeptanz von Komplexität ist es von besonderer Notwendigkeit, zu verstehen, wie Schuld und Scham regulierend wirken. Auf der einen Seite sind überbordende Scham- und Schuldgefühle ein großer Risikofaktor für verschiedene psychische Erkrankungen. Auf der anderen Seite ist die Abwesenheit von Schuld- und Schamgefühlen durch Verdrängung oder Abspaltung, was Entscheidungen auf unbarmherzige Weise scheinbar einfach macht, ein gefährlicher Wegbereiter für viel kollektives Leid.“
Mit Hinblick auf die nächste Veranstaltung hat die Vorstandsvorsitzende zudem verkündet, dass in 2024 anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Stiftungsgeschichte „reden! statt schweigen“ nicht wie üblich im November, sondern bereits am 10. Juni stattfinden wird.


Scham & Schuld: Psychische Funktionen
In dem Fachvortrag„Ich wäre am liebsten im Boden versunken!“ Über die abgründigen Zwillingsgefühle Scham und Schuld ist Ann Kathrin Scheerer, Psychoanalytikerin (DPV), Psychotherapeutin in eigener Praxis und Supervisorin auf die psychischen Funktionen von Scham und Schuld eingegangen. Auszüge aus dem Vortrag:

„Scham und Schuld – beide Gefühle, die zur menschlichen Existenz gehören, sind unangenehm, so dass wir uns gerne vor ihnen schützen. Sie werden nicht selten verwechselt, denn sie können sich schnell ineinander verwandeln. Sie stellen jedoch verschiedene Fragen: während die Schuld eine Handlung befragt - „Wie konnte ich DAS tun?“ – befragt die Scham die ganze Person – „Wie konnte ICH das tun?“.   

Während ein Übermaß an Scham und Schuld Lebensfreude und Lebenskraft, sogar noch transgenerational, angreifen oder verhindern kann, sind beide Gefühle doch unverzichtbar als individuelle und soziale Regulatoren für das gesellschaftliche und persönliche Miteinander. Sie ermahnen uns, Regeln zu beachten und Grenzen nicht zu verletzen.

Im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen, wie Sucht oder Depression, können Scham- und Schuldgefühle es erschweren, gegenüber den eigenen und den gesellschaftlichen Idealen von Autonomie und Zuversicht, die Erkrankung zu bekennen und Hilfe zu suchen.“

Der Fachvortrag in ganzer Ausführung wird Interessierten auf Anfrage gern zur Verfügung gestellt (Anfragen bitte an hendrikje.seidler@sf.hamburg).

Scham & Schuld: Aus der Betroffenenperspektive (Lesung)
Die Lesung mit Dagmar Berghoff ist ein fester Programmpunkt in der „reden! statt schweigen“-Veranstaltungsreihe und soll die Perspektive von Menschen mit einer psychischen Erkrankung auf das jeweilige Veranstaltungsthema deutlich machen. In diesem Jahr wurde von allen für das Veranstaltungsformat eingereichten Texten der Beitrag „Ich darf nicht“ von Alex Bollich auf der Bühne vorgetragen. Auf der Veranstaltung haben sich der Verfasser und Dagmar Berghoff vor der Lesung persönlich kennengelernt und ausgetauscht, so die ehemalige Tagesschau-Sprecherin vor Beginn der Lesung zu den rund 300 Gästen und gab weiter, es sei das erste Mal, dass ein Text vor so vielen Menschen präsentiert werde. Weitere für das Veranstaltungsthema eingereichte Textbeiträge stehen hier zum Reinlesen bereit.

Scham & Schuld: Theologischer Kontext
Auf dem abschließenden Podium wurde auch die Rolle der Kirche in Bezug auf die Ausprägung von Scham- und Schuldgefühlen thematisiert. Hierzu Pröpstin Isa Lübbers, Evangelisch-Lutherischer Kirchenkreis Hamburg-Ost und Stiftungsratsvorsitzende der Stiftung Freundeskreis:

„Leider wurde über lange Zeit, nicht nur im Mittelalter, die Rede von Sünde oder Schuld oft als ein Versuch erlebt oder empfunden, die Menschen klein zu halten, zu überwachen und ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen, um sie (besser) beherrschen zu können. In vergangenen Jahrhunderten, aber selbst bis in unsere Zeit, ist so, sicher auch von kirchlicher Seite, missbräuchlich Macht über Menschen ausgeübt worden, indem ihnen eingeredet wurde, dass sie grundsätzlich schlecht und minderwertig seien. Solche generellen Schuldzuweisungen können dazu führen, sich schuldig in der eigenen Existenz und grundsätzlich minderwertig zu fühlen und damit auch zu Scham über das eigene So-Sein.

Schon Martin Luther hat sich vor 500 Jahren wieder auf sehr alte christliche Grundüberzeugungen bezogen und gegen diesen Missbrauch gewandt indem er betont hat, dass jeder Mensch von Gott geliebt und akzeptiert ist. Dem liegt die Überzeugung zu Grunde, dass der Mensch grundsätzlich gut (gedacht), aber verführbar ist und es zwar einen Unterschied gibt, zwischen dem Menschen, wie er als soziales Wesen (von Gott) gedacht ist und dem wirklichen Menschen, der sich oft so ganz anders verhält. Aber es wird unterschieden zwischen uns als Person, die (von Gott) bedingungslos geliebt und akzeptiert wird und unserem Handeln, für das wir Verantwortung tragen – besonders, wenn es andere oder die Gemeinschaft schädigt.

Das ist auch heute Haltung der Evangelischen Kirche, für die ich ja nur sprechen kann: Gleich ob ein Mensch gesund oder krank, gleich welcher Hautfarbe oder Ethnie, gleich welchen Geschlechtes und sexueller Ausrichtung: alle Menschen sind gleich und bedingungslos (von Gott) geliebt. Grundsätzliche Schuldzuweisungen, wie z.B. bei gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die den Menschen, der anders ist, an sich klein und minderwertig machen, haben in meinem Glauben und Menschenbild keinen Platz.“

Tombola für den guten Zweck
Eine feste Größe im Programm von „reden! statt schweigen“ ist die Tombola, deren Erlöse - in diesem Jahr 2.980 Euro - den Stiftungsprojekten zugutekommen. Neben „reden! statt schweigen“ sind das die Projekte Kinderfreizeit und Federleicht in deren Rahmen die Stiftung Freundeskreis Kinder und Jugendliche aus psychosozial belasteten Familien unterstützt. Die Stiftung bedankt sich ganz herzlich bei allen Organisationen, Unternehmen und Unterstützer*innen, welche die Gewinne beziehungsweise finanzielle Mittel für die Tombola bereitgestellt haben.


Pressekontakt
Hendrikje Seidler
040 53 32 28 1409
hendrikje.seidler@sf.hamburg