Wo ist die Grenze? Über Machtgefälle und Missbrauch in helfenden Berufen

Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll rückt Grenzverletzungen in den Fokus 

Mit dabei:

  • Sozialsenatorin Dr. Melanie Leonhard (Grußwort / Podium)
  • Dr. Andrea Schleu (Vortrag / Podiums), Vorsitzende und Beraterin „Ethikverein e.V. – Ethik in der Psychotherapie“; Fachärztin für u.a. Psychotherapeutische und Innere Medizin
  • Dagmar Berghoff (Lesung)

Das Video zur Veranstaltung finden Sie auf unserem YouTube-Kanal.

„Wo ist die Grenze? Machtgefälle und Missbrauch in helfenden Berufen“ lautete der Titel der Veranstaltung aus der „reden! statt schweigen“-Reihe der Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll, die am 07.11.2022 im Beisein von etwa 200 Besucher*innen in der Kulturfabrik Kampnagel stattgefunden hat. Es ging um Grenzverletzungen in der Beziehungsarbeit in helfenden Berufen und damit um ein sensibles und heikles Thema. Was sind Grenzverletzungen? Wie kann es dazu kommen? In welchen Nuancen treten Grenzverletzungen auf? Wie kann man vorbeugen und wo kann auch Politik, konkret die Hamburger Sozialbehörde, strukturell ansetzen? Unter anderem diese Fragen wurden im Rahmen verschiedener Programmpunkte mit Vertreterinnen aus den Bereichen Psychiatrie, Ethik und Politik beleuchtet. Durch den Abend führte der Journalist und Soziologe Burkhard Plemper. 

Grenzen & Grenzverletzungen in der Psychotherapie (Fachvortrag) 
Eine fachliche Einordnung aus ethischer und psychotherapeutischer Perspektive gab Dr. Andrea Schleu in ihrem Vortrag „Grenzen und Grenzverletzungen: Professionelle Beziehungen und Patient*innensicherheit in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen". Dr. Schleu ist Vorsitzende und Beraterin vom „Ethikverein e.V. – Ethik in der Psychotherapie“, Fachärztin für u.a. Psychotherapeutische und Innere Medizin und Autorin des Fachbuches "Umgang mit Grenzverletzung – Professionelle Standards und ethische Fragen in der Psychotherapie" (2021, Springer). 

Eine Grenzverletzung liegt vor und wird vom Ethikverein auch als „red flag“ kategorisiert, so die Referentin im Laufe ihres Vortrags, wenn z.B.:

  • eine Vermischung der professionellen und der privaten Rollen und Räume bestehe,
  • sexuelle Kontakte und soziale Beziehungen zu Klient*innen und deren Angehörigen aufgenommen werden,
  • über Klient*innen außerhalb des Behandlungsteams/-settings gesprochen wird,
  • Klient*innen für Zwecke die Werbung/Öffentlichkeitsarbeit benutzt werden,
  • geschäftliche / finanzielle Beziehungen zu Klient*innen unterhalten werden,
  • verbale und/ oder sexualisierte Aggression / Entwertung ggü. Klient*innen stattfindet.

Kurz, immer dann, wenn Therapeut*innen eigene narzisstische, emotionale, sexuelle oder finanzielle Bedürfnisse in der Behandlung oder Betreuung realisieren. 

Die Referentin wies darauf hin, dass ein bestehendes strukturelles Machtgefälle und eine Asymmetrie zwischen Klient*innen und Therapeut*innen anerkannt und stets im professionellen Handeln berücksichtigt werden müsse. Klient*innen darüber aufzuklären, gehöre an den Anfang einer Therapie. Gleichzeitig müsse jedoch auch klar sein, dass dadurch kein Abbau der Asymmetrie stattfindet. 

Als ethische Orientierungspunkte, die wichtig seien, um professionelle Beziehungen - im Unterschied zu privaten - so zu gestalten, dass Klient*innen davon profitieren können, nannte die Referentin u.a. die Prinzipien aus dem „Vier-Prinzipien-Modell nach Beauchamp und Childress“: Prinzip der Autonomie / der Nichtschädigung / der Fürsorge / der Gleichheit und Gerechtigkeit.

Die Risikofaktoren für Grenzverletzungen (von Seiten der Therapeut*innen z.B. eigene belastende Lebenssituation, persönliche Krisen oder Traumatisierungen, fehlende triadische Kompetenz; von Seiten der Klient*innen bspw. Traumatisierung und strukturelle Störungen, fehlende soziale Unterstützung), die Folgen für Betroffene (z.B. Angst, Verwirrung, Selbstzweifel, Schuld- und Schamgefühle, Symptomzunahme, Dekompensation, Suizidalität) wurden in dem Vortrag ebenso thematisiert wie Möglichkeiten der Prävention (z.B. eine „offene Fehlerkultur“, Ethikleitlinien, Schutz-/Präventionskonzepte, ständige Selbstreflexion im Therapieprozess, Intervision und interne sowie externe Supervision, Fortbildung).

Podiumsdiskussion: Politik, Schutzkonzepte „leben“, Grenzen erkennen
In der Podiumsrunde ging es unter anderem um die Frage, welche Rolle die Politik bei der Vorbeugung von Grenzverletzungen einnehmen könne. Hierzu erklärte Sozialsenatorin Dr. Melanie Leonhard, dass die durch die Sozialbehörde geförderten Angebote der Eingliederungshilfe, der Pflege und der Kinder- und Jugendhilfe zum Aufbau und zur Umsetzung von Schutzkonzepten verpflichtet seien. Die Überprüfung der Einhaltung seitens der Sozialbehörde erfolge dabei je nach Arbeitsbereich gemäß der bundes- oder landesgesetzlichen Vorgaben. 

Mit Hinblick auf Schutzkonzepte erklärte die Senatorin zudem: „Das in Deutschland in Selbstverwaltung organisierte Gesundheitswesen der gesetzlichen Krankenversicherung ist seit Dezember 2020 über eine bundesweit geltende Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses ebenfalls verpflichtet, in allen Einrichtungen der Gesundheitsversorgung Schutzkonzepte zur Vorbeugung von Missbrauch und Gewalt einzusetzen. Dies betrifft alle Krankenhäuser, Arztpraxen und psychotherapeutischen Einrichtungen und Praxen, die Leistungen über die gesetzliche Krankenversicherung verordnen dürfen. Die unter meinem Vorsitz geführte Hamburger Landeskonferenz zur gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung unterstützt dies derzeit mit der Entwicklung einer Handreichung zur Erstellung von Schutzkonzepten für Einrichtungen der Gesundheitsversorgung für Kinder- und Jugendliche.“

Zum Umgang mit Schutzkonzepten ergänzte Frau Dr. Schleu, dass es wichtig sei, ein Schutzkonzept nicht als statisches Werk zu begreifen und richtete damit verbunden ein klares Appell an Einrichtungen: „Stellen sie es nicht in den Schrank, arbeiten sie damit!“ 

Wo ist die Grenze? fragte der Moderator die Expertin Dr. Schleu und veranschaulichte dies beispielhaft an einem Szenario, in dem es innerhalb einer Therapiesitzung bspw. darum gehe, dass ein Klient von Problemen im Umgang mit seinen pubertierenden Kindern berichte. Anknüpfend daran: Wie weit darf ein Therapeut in diesem Fall sein Privatleben in die Sitzung einfließen lassen? Wäre eine Antwort „Ja, das kenne ich auch von meinen Kindern“ bereits ein Schritt zu weit heraus aus dem professionellen Setting hinein ins Private, wäre es eine Grenzverletzung? Wenn es bei diesem Satz bliebe, so Dr. Schleu, nein, dann würde sie darin keine Grenzverletzung sehen. Würden die Erzählungen jedoch inhaltlich ausführlicher werden, dann wird es ernst und man müsse in diesem Kontext auch bedenken, dass der Therapeut mit jedem weiteren Satz bezogen auf sein Privatleben, Therapiezeit des Klienten „klauen“ würde. Therapeut*innen müssen sich im Gespräch stets reflektieren und immer wieder aufs Neue fragen „Warum mache ich was?“

Grenzverletzungen: Alle müssen besser werden
Zu Grenzverletzungen hielt Dr. Stephanie Wuensch, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll, in ihrer Begrüßungsrede fest: „Eigentlich kann man Grenzverletzungen nicht kontrovers diskutieren, vielmehr muss es allen Akteuren, also Leistungserbringern, Kostenträgern und auch der Politik, darum gehen, hier viel besser zu werden – beispielsweise in puncto Prävention.“ 

Lesung
Eine Therapeutin der Stiftung hat mit Rückblick auf ihre langjährige Arbeitspraxis die Erfahrungen von Klient*innen, die Grenzverletzungen erlebt haben, sowie ihre Erfahrungen aus Therapeutensicht in einem Text verfasst und somit das Thema aus mehreren Perspektiven veranschaulicht. Vorgetragen wurde dies von Dagmar Berghoff, die die Stiftung bereits seit vielen Jahren in dieser Rolle unterstützt. Der Text ist hier auf der Stiftungswebsite veröffentlicht.

Tombola für den guten Zweck
Die Tombola ist eine feste Größe im Programm von „reden! statt schweigen“, deren Erlöse  - in diesem Jahr 1990 Euro - den Stiftungsprojekten Kinderfreizeit und Federleicht zugutekommen. Die Stiftung bedankt sich ganz herzlich bei allen Organisationen und Unternehmen, welche die Gewinne beziehungsweise finanzielle Mittel für die Tombola bereitgestellt haben.

Würdigung und Veränderung
Neben dem Schwerpunktthema wurde sich auf der Veranstaltung zwei weiteren Anlässen gewidmet. So wurden gebührende Worte an Josef Brasch gerichtet, Geschäftsbereichsleiter der Eingliederungshilfe und der Jugend- und Familienhilfe der Stiftungsgesellschaft, der nach 28 Jahren Unternehmenszugehörigkeit zum Jahresende 2022 den Ruhestand antreten wird. Sowohl die Stiftungsratsvorsitzende Isa Lübbers als auch Senatorin Dr. Melanie Leonhard widmeten dankende und würdigende Worte an Herrn Brasch und sein enormes Engagement im Rahmen seiner beruflichen Laufbahn.

Eine Neuigkeit in Bezug auf die Stiftung kündigte die Vorstandsvorsitzende Dr. Wuensch in Ihrer Begrüßungsrede an: „Wir werden uns verändern, wir werden einen neuen Namen bekommen: Aus Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll wird Stiftung Freundeskreis.Ich freue mich, dass wir mit dem etwas veränderten Stiftungsnamen ‚Stiftung Freundeskreis‘ und dem Claim ‚Stark für psychische Gesundheit‘ eine direkte Beziehung zu unserem Arbeitsanspruch und -alltag herstellen werden. Wir bieten in vielen Hamburger Stadtteilen Unterstützung für Menschen mit psychischen Erkrankungen an und haben uns schon lange vom regionalen und versorgungsspezifischen Ochsenzoller Bezug gelöst, was wir mit der Umbenennung untermauern.“ Zusammen mit der Veröffentlichung einer neuen Website werde man Anfang 2023 offiziell unter neuem Namen und mit neuem Logo auftreten.


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